Trauer und Verlust gehören zu jeder Biographie. Häufig hören wir von der Notwendigkeit des Loslassens vom Verstorbenen, doch genau das wollen wir doch nicht. Trauernde fühlen sich dadurch missverstanden, denn sie wollen doch ihren geliebten Menschen nicht ein zweites Mal verlieren. Doch wie kann man dann mit dem Schmerz und der tiefen Sehnsucht umgehen?
Der Tod meiner Mutter hat mich schon als Kind dazu gezwungen, mich mit der Trauer und dem unwiederbringlichen Verlust intensiv auseinanderzusetzen. Es wurde zu einem Lebensinhalt, der mich nun schon fast 30 Jahre begleitet. Ich erlebte Phasen des Schocks, der Dissoziation, der Verdrängung, des kompletten Rückzugs oder der immensen Angst vor weiteren Verlusten. Aber ich entwickelte auch ungeahnte Kräfte, die mich nicht nur eine höhere schulische Ausbildung, sondern später sogar ein Studium absolvieren ließen. Ich konnte im weiteren Verlauf mein Familienleben mit einer zu dieser Zeit erfüllenden Karriere verbinden. Ich steckte viel Zeit in die Renovierung und Restauration des Bauernhauses meiner Mutter. Immer wieder merkte ich aber, dass da ein tiefer Schmerz in mir ist, der neben der schöpferischen Kraft wahrgenommen werden will. Die nicht zugelassene Trauer in mir entwickelte sich zu einer tiefen Traurigkeit, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnte und sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen ihr Ventil suchte. Doch es waren nicht nur Tränen der Trauer, sondern ein oftmals zerstörerischer Mix aus verschiedenen Emotionen, der mein (Gefühls-)Leben auf den Kopf stellte.
“Auch lang zurück liegende Verluste können durch die Trauerarbeit abgearbeitet werden. Meist müssen dann nicht nur die Trauergefühle erneut zugelassen und gewürdigt, sondern häufig muss auch die innere Beziehung zum Verstorbenen bewusst realisiert, verdeckte Aufträge geklärt und schließlich in das Leben integriert werden. ”
Schwere, unerwartete oder gar traumatische Verluste sind auch für die Trauerbegleitung und die Psychotherapie eine Herausforderung. Dabei ist der Trauerprozess außerordentlich individuell und für jede Person in ihrem psychosomatischen Erleben einzigartig. Die unmittelbare Trauerreaktion kann wie eine Schmerzerfahrung als Reaktion auf eine unlösbare Situation verstanden werden. Das persönliche Erleben kann als Betäubung, Lähmung oder wie ein surrealer Albtraum wahrgenommen werden. Der Schmerz der Trauer wird aus Schutz abgespalten. Wenn der Schmerz dann immer wieder durchbricht oder später zugelassen werden kann, beschreiben ihn viele Trauernde als intensive körperliche Erfahrung. Dazu können uns Erinnerungen an winzige Details, die mit dem Sterben und Tod des geliebten Menschen zusammenhängen, überfluten. Trauernde können auch eine Zeitverzerrung, häufig zugleich als verlangsamt und beschleunigt, erleben. Im akuten Trauerschmerz erleben sich Trauernde häufig als kleines Kind, das sich hilflos und ohnmächtig fühlt.
Unsere auf Anpassung und Schnelligkeit angelegte Gesellschaft drängt Trauernde sehr rasch wieder in das alltägliche Funktionieren zurück. In vielen traditionellen Gesellschaften spricht man vom einem sogenannte Trauerjahr, welches als angemessene Zeit der Trauer gesehen wird. Die Trauer als angemessene Reaktion auf einen Verlust trifft auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, mit der ihr eigenen Vorgeschichte von Verlusten und früheren Bindungserfahrungen. So fühlen sich Trauernde auch dazu gedrängt, nach einer gesellschaftlich als angemessen gesehenen Trauerzeit, vom Verlust ab- und zum weiteren Leben ohne dem Verstorbenen hinzuwenden. Doch genau an dieser Stelle des Drängens zum "Loslassen" von einem Verstorbenen, entwickelt sich bei Trauernden ein innerer Widerstand. Es ist so, als ob der Mensch ein zweites Mal gehen müsste. Und das in manchen traumatischen Fällen, obwohl sich die Trauer aufgrund des Schocks oder Negierens noch nicht einmal angemessen entfalten konnte.
Neue Ansätze in der Trauerpsychologie und in der systematischen Psychotherapie
Im Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit steht die Veränderung der inneren Beziehung zum Verstorbenen. Das Aufrechterhalten einer inneren Bindung wird dabei von Trauernden als besonders hilfreich empfunden. Aus einer systemischen Sicht bleibt der Verstorbene in der Trauerarbeit so auch Teil des Systems. Wie alle Gefühle entsteht auch die Trauer in einem Beziehungskontext. Trauer ist - ähnlich wie zum Beispiel die Wut - Zeichen einer Beziehungsstörung, allerdings der fundamentalsten und schlimmsten Störung, nämlich des Abbruchs der Beziehung durch die endgültige Abwesenheit eines Beziehungspartners. Dennoch will die Trauer wie alle Beziehungsgefühle, die Beziehungsstörung "beheben". Die Realität des Todes verhindert dies aber als konkrete und körperliche Realität. Deshalb sucht die Trauer Wege, um eine neue Form der Beziehung zu finden.
Die bekannte Aufforderung an Trauernde, den Verstorbenen loszulassen, trifft bei diesen nicht nur auf Widerstand, sondern ist auch so nicht zulässig. Deshalb können und wollen Trauernde dieser Aufforderung nicht nachkommen. Der Satz "Der Verstorbene existiert nicht mehr" gleicht strukturell dem Satz "Die Farbe Rot gibt es nicht". Um diesen Satz zu realisieren, ist es nötig, das Verneinte zu imaginieren. Damit ich also den Verstorbenen loslassen kann, muss ich ihn mir herholen. Diese Paradoxie führt uns und unsere Vorstellungskraft an die Grenze des Begreiflichen. Das Gehirn könnte "bestenfalls" den geliebten Menschen vergessen, doch damit würden wir uns unserer Loyalität widersetzen.
Alles, was in der Beziehung zum Verstorbenen gedacht, gefühlt und getan wird, setzt seine innere Repräsentanz voraus. Deshalb tragen Trauernde auch Imaginationen als Erinnerungen, innere Bilder, aber auch als Körpergefühle in sich. Die Beziehungsarbeit mit diesen inneren Repräsentanzen steht im Zentrum der psychotherapeutischen Trauerarbeit. Dabei erlebt der Trauernde zwei Pole in seiner Trauerreaktion, die gegensätzlicher nicht sein könnten:
- Die Realität des Todes und die äußere Abwesenheit des geliebten Menschen allmählich bewusst zu machen und sie als unausweichlich zu akzeptieren.
- Die Neugestaltung der inneren Beziehung zum geliebten Menschen. Ein unbekannt starkes Beziehungs- und Nähegefühl zum Verstorbenen will als innere Repräsentanz integriert werden.
Die Realisierungs- und Beziehungsarbeit sind somit die zwei zentralen Prozesse der Trauerarbeit. Die Aufgabe der Psychotherapie ist es eine hilfreiche Struktur zur Orientierung und Stabilisierung anbieten zu können.
Trauerarbeit als schmerzliche Realisierungsarbeit
Dieser Teil der Trauerarbeit ist eine durch den Tod des geliebten Menschen erzwungene Aufgabe, sie ist schmerzlich und unausweichlich. Die Trauergefühle selbst sind innerliche und somatische Marker für den Verlust. Die Verknüpfung des Spürens dieser schmerzlichen Gefühle spiegelt dabei nicht nur das Erleben der Realität des Verlustes, sondern auch die Liebe und Loyalität zum Verstorbenen selbst wider. Trauernde werden dabei immer wieder von der äußeren Realität zur Realisierung ebendieser Realität aufgefordert. Diese erzwungene Auseinandersetzung findet einerseits bei den zahlreichen Interaktionen rund um den Tod des Verstorbenen mit Ärzten, dem Bestatter, zuständigen Behörden, dem Begräbnis oder der Trauergemeinde, andererseits aber auch in weiterer Folge in einem veränderten Alltag ohne dem Verstorbenen statt.
Gerade zu Beginn der akuten Trauersituation ist der Verlustschmerz oft sehr massiv, nicht selten auch mit einer vorwurfsvoll-aggressiven oder verzweifelt-ohnmächtigen Tönung gefärbt. Auch die Untröstlichkeit gehört auch zu diesem Anfangsschmerz. Das Zulassen der Angstgefühle ist wichtig, damit Trauernde nicht im Schock erstarren und ihre Trauer schon früh blockieren. Andererseits ist das Begrenzen und Beenden auch der scheinbar grenzenlosen und unendlichen Schmerz- und Trauergefühle notwendig, um Trauernde vor einer möglichen emotionalen Überflutung und Destabilisierung durch den Schmerz zu schützen. Je früher Trauernde selbst lernen, erlaubend und begrenzend mit ihren Gefühlen umzugehen, desto stärker erleben sie ihre eigene Kompetenz. Dabei setzt sich die Trauerreaktion aus sehr unterschiedlichen Gefühlsaspekten zusammen. Hierbei ist die Differenzierung der Trauergefühle und die Wahrnehmung der verschiedenen Aspekte wichtig. Das Trauererleben kann dabei je nach Zeitpunkt Facetten des Verlustes, Entsetzens, Nichtbegreifens, der Ohnmacht und Lähmung, der Leere, der Wut, der Schuld und vieles mehr einnehmen.
Als Teil der Realisierungsarbeit werden in der Psychotherapie die geäußerten Gefühlsaspekte aufgegriffen, wahrgenommen, gespürt, gewürdigt, strukturiert und Schritt für Schritt bearbeitet. Dabei hat die Trauer selbst immer auch eine kommunikative Beziehungsfunktion, die das Beziehungssystem mit dem geliebten Menschen nicht einfach beendet, sondern reorganisiert und an die neuen Bedingungen anpasst. Damit ist die Trauer weit mehr als eine Abschieds- und Loslassemotion. Insofern ist die Trauer Ausdruck einer schmerzenden Liebe, die weiterleben will und dies in der bisherigen Form nicht mehr realisieren kann. Auch die anderen Gefühle der Trauer lassen sich als Ausdruck der Liebe würdigen. So kann man den Verlustschmerz als Verwundung der Liebe, die Wut als Empörung der Liebe und die Ohnmacht als Machtlosigkeit der Liebe verstehen.
Trauerarbeit als kreative Gestaltung einer neuen Beziehung zum Verstorbenen
Der Verlust eines geliebten Menschen trifft Trauernde zentral in der emotional fundierten Bindung zu ihm. Häufig hinterlässt der Verstorbene nicht nur im Äußeren, sondern auch im Inneren eine Leerstelle. Parallel zu diese Erfahrung setzt bei Trauernden sofort das intensive Bemühen um eine Reinternalisierung des Verstorbenen ein. Es werden Videos, Fotos oder andere Erinnerungen gesucht. Wenn Trauernde in ihre Erinnerungen gehen, erleben sie dies als internale Begegnung, in der ihnen der geliebte Mensch nahekommt. Die Erinnerungsarbeit ist in der Psychotherapie somit ein zentrales Element zur Stärkung und Neugestaltung der Beziehung zum Verstorbenen. Dabei ist es aber essentiell zu Beginn mit emotional schönen Erinnerungen zu arbeiten. Belastende oder traumatische Erinnerungen an den Verstorbenen werden ähnlich wie in der Traumatherapie an einen heilsamen Ort gebracht. Unabhängig von diesem Ort ist es aber auch allgemein wichtig, für den Verstorbenen einen sicheren Ort zu finden.
Die Frage nach dem Aufenthaltsort des Verstorbenen ist für Trauerende in der Regel eine existentielle Frage. An ihr entscheidet sich auch, ob und wie eine innere Beziehung zum Verstorbenen weitergelebt werden kann. Deshalb ist das Konzept des sicheren Ortes für den Verstorbenen ein wesentlicher Teil eines beziehungsorientierten, systematischen Verständnis der Trauer. Trauernde können und wollen sich nicht vorstellen, dass der Verstorbene überhaupt nicht mehr existent ist. Vielmehr wollen sie annehmen und fühlen, dass der Verstorbene in einer anderen Seinsweise an einem anderen Ort existiert. Dieses Bedürfnis nach einem sicheren Ort zeigt sich auch in fast allen Religionen und Kulturen. Der Trauerprozess kann auch als Prozess des Suchens nach diesem sicheren Ort verstanden werden. Für manche ist es ein langer Weg, andere können mit dem Gedanken eines sicheren Ortes zunächst wenig anfangen. Ist es jedoch einmal gelungen so einen sicheren, haltenden und heilsamen Ort für den Verstorbenen zu finden, so kann auch wieder ein Stück weit emotionale Sicherheit empfunden werden. Dabei kann der sichere Ort ein physisch existierender Ort (z.B. das Grab, eine Unfallstelle oder ein Platz im Wald) oder ein imaginativer, innerer Ort sein. Durch die Installation des sicheren Ortes müssen Trauernde so vom Verstorbenen nicht "loslassen", sondern können ihn an diesem Ort "dalassen".
Nun kann auch die innere Beziehung zum Verstorbenen neu gelebt werden. Der Hinterbliebene kann den Verstorbenen an seinem sicheren Ort imaginativ immer wieder aufsuchen und schließlich auch wieder in sein Leben zurückkehren. In weiterer Folge geht es darum, die Beziehung zum Verstorbenen unter den Bedingungen des Alltags zu leben und zu integrieren.
Wichtige Themen dabei sind
- Die Integration des internalen Dialogs mit dem Verstorbenen in den Alltag
- Die Gestaltung und Integration von Beziehungsritualen (z.B. Grabpflege, Gedenkkerze etc.)
- Die Gestaltung von Erinnerungs- und Gedenktagen (z.B. Gedenkmesse, Grabbesuch etc.)
Manche Trauernde erleben und verstehen den Verstorbenen als reale Person, die sie zwar als internal erfahren, aber der sie doch eine reale Existenz (z.B. spirituelle Realität) zusprechen. Andere verstehen den Verstorbenen als eine internale Repräsentanz. In beiden Fällen kann die neu gestalte Beziehung zum Verstorbenen intensiv gelebt werden. Wie in jeder Beziehung gibt es eventuell auch in dieser Beziehung ungeklärte Fragen, Konflikte oder Aufträge. In der psychotherapeutischen Arbeit können nun auch diese offenen Themen über die neu etablierte Beziehung bearbeitet werden. Stehen die Hinterbliebenen und die Verstorbenen in einer schadhaften Beziehung zueinander, sollte wie bei der Konfliktarbeit eine Klärungs- oder Versöhnungsarbeit angestrebt werden.
Trauerarbeit als Transformation der Trauer und als Abschied von der Trauer
Mit Fortdauer der Realisierungsarbeit und den parallelen Prozessen in der Beziehungsarbeit verändert sich allmählich auch das Erleben der Trauer. Erleben Trauernden die Trauer anfangs als überflutend, allmächtig und eindringend, so transformiert sie sich im Lauf der Therapie langsam zu einem Gefühl des Wehmuts oder einen feinen Sehnsucht. Wenn es im Trauerprozess ein Loslassen gibt, dann ist es das Loslassen von der Trauer und nicht von der neu gestaltete Beziehung zu dem Verstorbenen an einem sicheren Ort.
Ein gelingender Trauerprozess ist gegen Ende durch die Wahlfreiheit der Fokussierung des Trauernden gekennzeichnet. Er kann sich immer wieder bewusst dem Verlust als ein sein Leben prägendes Ereignis zuwenden, und zwar so intensiv, wie er es jetzt für sich braucht und wie er sich jetzt entscheidet. Aber er kann dann auch wieder ganz bewusst seine Aufmerksamkeit von dort abziehen. Ebenso kann der Hinterbliebene entscheiden, in die innere Beziehung, die Gefühle und die Erinnerungen an den geliebten Menschen oder in den inneren Dialog mit ihm zu gehen.
Und schließlich können Hinterbliebene sich mit ihrer Aufmerksamkeit bewusst für die Gestaltung ihres Lebens entscheiden ohne dabei Gefühle des Verrats oder Illoyalität gegenüber dem Verstorbenen zu empfinden.
* Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verwende ich abwechselnd die weibliche oder männliche Form. Männer und Frauen sind natürlich gleichermaßen angesprochen. Gerne kann der Artikel auch über soziale Netzwerke geteilt werde.
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