Drohende Arbeitslosigkeit oder Auftragsausfälle bei Selbständigen sind ein idealer Nährboden für Zukunftsängste. Aus einer anfänglichen Besorgtheit gedeihen mit der Zeit nicht nur finanzielle, sondern auch individuelle Sorgen. Persönliche Erfolge oder Kompetenzen gehören plötzlich der Vergangenheit an. Wer sind wir ohne unserer Aufgabe, die wir Job nennen?

In meinem heutigen Post möchte ich mich an all jene Betroffenen wenden, die sich durch die Auswirkungen der aktuellen Krise Sorge um Ihre berufliche Zukunft machen. Nicht nur in meiner Rolle als Psychotherapeut, sondern auch als Neuer Selbständiger - oder Start-Up um in der Sprache des 21. Jahrhunderts zu bleiben - kann ich mich in diese herausfordernde Situation besonders gut hineinversetzen. Aber egal, ob Angestellte oder Unternehmer, alle Betroffenen haben eines gemeinsam: eine - scheinbare - Sicherheit ging oder ist gerade dabei verloren zu gehen.
Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung betrifft allerdings nicht nur die augenscheinlichen und unmittelbaren finanziellen Sorgen der nächsten Wochen und Monate. Trotz eines sehr gut ausgebauten Sozialsystems mit einem von der Regierung aufgestellten, in noch nie dagewesener Höhe dotierten Härtefallfonds, neuen Kurzarbeitsmodellen oder Haftungsübernahmen für ausständige Kredite, lassen sich nicht alle Sorgen betäuben. Einerseits bleiben weitere soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen offen: Wie lange halten wir das durch? Welchen Preis müssen wir später zahlen um diese Ausgaben wieder decken zu können? Wer soll dafür später zur Kasse gebeten werden?
Andererseits bleiben in der Situation auch persönliche Sorgen oder Ängste, die wir derzeit vielleicht noch nicht einmal genau benennen können, aber nur als unangenehmes Gefühl verspüren. Eine Emotion, die uns aufgekratzt, launisch, angespannt oder auch lethargisch und zurückgezogen erscheinen lässt. Oft ist es das unmittelbare Umfeld, dem solch eine Veränderung als erstes auffällt.
Einige Personen sind eventuell zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer drohenden Arbeitslosigkeit konfrontiert. Sie gehören unter Umständen zu jener Gruppe, die bisher eine fundierte Ausbildung gemacht hat, sich stets bemühte ihr Bestes zu geben, die beruflichen Aufgaben mit großer Freude erfüllte oder auch das Risiko einer Selbständigkeit in Kauf nahm um einen großen Traum zu verwirklichen. Sie spüren vielleicht eine Art von Ungerechtigkeit trotz all ihrer Bemühungen nun unverschuldet in diese Situation manövriert worden zu sein.
Nach dem ersten Schock und der damit verbundenen Enttäuschung durch den Jobverlust versuchen die meisten Menschen relativ rasch wieder in den Handlungsmodus zu kommen um die verloren gegangene Sicherheit wieder zu erlangen. Es braucht Struktur. Ein Plan wird erstellt. Aufgaben werden abgearbeitet: Soziale Unterstützung beantragt - check! Lebenslauf upgedatet - check! Soziale Netzwerke aktiviert - check! Stellenanzeigen gesichtet, persönliche Motivations- und Bewerbungsschreiben abgeschickt - check! Oder aber Sie sind Unternehmer und haben sich bereits Alternativen zur Kompensation des Umsatzrückgangs überlegt und umgesetzt. Den längst fälligen Online-Shop über Nacht aus dem Boden gestampft. Neue Vertriebskanäle über soziale Medien erschlossen. Die Logistikkette an die neuen Anforderungen adaptiert. Die Kosten womöglich gesenkt.
Alles unter Kontrolle. Und dann? Warten.
Oft ist es dann genau in dieser Zeit des Wartens, in der sich dieses unangenehme Gefühl wieder meldet. Es sitzt sehr tief und lässt sich nicht so einfach abstellen. Es schleichen sich eventuell erste Zweifel ein, ob man wirklich alles schon probiert hat. Wir bekommen von Familie und Freunden Zuspruch:
"Du brauchst nur etwas Geduld, das ist gerade eine schwierige Zeit."
Auch Fachexperten aus Wirtschaft und Psychologie raten zur Besonnenheit, würdigen unsere bisherigen Erfolge oder empfehlen vielleicht noch die eine oder andere Adaption in der Inszenierung der eigenen Fähigkeiten. Natürlich tut uns solch ein Zuspruch gut und wertvolle Tipps lassen uns auch wieder in den Handlungsmodus kommen. Gerade in der Wirtschafts- und Arbeitswelt wurden wir doch konditioniert über unser "Tun" bewertet zu werden. Und in keinem anderen System wird unsere Bewertung und dadurch auch unser Selbstwert so unmittelbar an eine finanzielle Währung geknüpft. Was aber, wenn wir nun gerade nicht Teil des Systems sein können? Welche Werte messen die Personen im System den Personen außerhalb des Systems bei? Oder ist das für diese Personen gar nicht mehr relevant? Es sind gerade diese Fragen, die uns unsicher werden lassen oder dieses unangenehme Gefühl in uns nähren. Unser Blickfeld mag sich dadurch eventuell auch einengen, sodass wir andere wichtige Ressourcen in und um uns nicht wahrnehmen können. Wer sind wir, wenn wir nichts tun oder gerade nicht erfolgreich sind? Ängste um unsere Zukunft lassen uns erstarren.
Falls Sie ähnliche Gefühle oder Gedanken gerade vereinnahmen sollten, möchte ich Ihnen eine systemische Methode aus meiner Praxis vorstellen. Ich mache sie gerne mit Klienten als mögliche Stütze bei der Bewältigung von Zukunftsängsten. Ein besonderer Vorteil bei diesem Instrument liegt in der Einbeziehung des Körpers und seiner Wahrnehmung. Wichtig: die Übung sollten Sie auf jeden Fall zu zweit machen und auch darauf achten, dass Sie der Partner Ihrer Wahl dabei gut unterstützen kann, im Idealfall ein ausgebildeter Psychotherapeut.
Im folgenden Video finden Sie eine Visualisierung als Beispiel, weiter unten dann auch eine genaue Beschreibung des Ablaufs.
Fokus auf die Bewältigung von Zukunftsängsten
Bei dieser Übung bewegen wir uns auf einer Zeitachse. Diese bezieht die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft rund um eine konkrete Fragestellung mit ein. Die Reflexion wird dadurch verdichtet, indem sie räumlich dargestellt wird, z.B. als gedachte oder mit Schnüren ausgelegte Linie.
1. Erarbeitung der konkreten Fragestellung
Zunächst wird in Form eines strukturierten Interviews die konkrete Fragestellung herausgearbeitet. Im Laufe meiner Arbeit hat sich herausgestellt, dass Sie sich für diesen Prozess genügend Zeit nehmen sollten. In meiner Praxis versuche ich mit meinen Klienten hier das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und oftmals ergibt sich dadurch eine ganz andere als die ursprünglich gedachte Frage.
2. Auflegen einer Zeitlinie
Mit Hilfe einer Schnur oder einem Stab legen Sie eine Zeitlinie in den Raum. Mittels Kärtchen markieren Sie einen Punkt in der Vergangenheit (z.B. Geburt oder der Beginn einer Lebensphase), einen Punkt in der Gegenwart und einen Punkt in der Zukunft (z.B. in 3 Jahren oder einen Zeitpunkt nach der Bewältigung des Problems).
3. Fokus auf Ressourcen und Kompetenzen
Sie stellen sich auf den Punkt in der Vergangenheit und überlegen sich welche Fähigkeiten, Beziehungen oder Erfahrungen für Sie damals hilfreich waren. Jede dieser Ressourcen notieren Sie auf ein Kärtchen und legen dieses vor sich auf den Boden.
4. Empfindungen in der Gegenwart
Vom Startpunkt in der Vergangenheit gehen Sie auf der Linie nun zum Punkt der Gegenwart. Dort angekommen, schauen Sie auf die Ressourcen der Vergangenheit zurück und spüren welche Empfindungen (Körperwahrnehmungen, Gefühle, Gedanken) dabei aufkommen. Auch diese notieren Sie wiederum auf Kärtchen und legen diese vor sich auf den Boden. Im Anschluss daran richten Sie Ihren Blick im Wissen um Ihr Anliegen auf den Punkt in der Zukunft. Welche Stimmungen kommen bei diesem Blick in die Zukunft auf?
5. Markierung des Ereignisses in der Zukunft
Das angstmachende Zukunftsereignis wird auf der Zeitlinie da markiert, wo es sich ereignen würde. Gemeinsam gehen wir in langsamen Schritten (z.B. Monat für Monat oder Jahr für Jahr) diesem Angstereignis entgegen.
6. Durchschreiten des Ereignisses
Nun - das ist entscheidend - bleiben Sie nicht stehen, sondern gehen weiter in das Angstereignis hinein und durch es hindurch, um schließlich aus angemessenem Abstand darauf zurückzuschauen. Die zweite Person befragt Sie nun zur Ihren Empfindungen: Wie fühlt es sich an, das nun hinter sich gebracht zu haben? Hat sich in Ihren Wahrnehmungen etwas verändert?
7. Rückkehr in die Gegenwart
Mit diesen neuen Erfahrungen im Gepäck geht es dann zurück in die Gegenwart. Dort wird gefragt, ob diese Zeitlinienreise zu neuen Ideen angeregt hat, die vorher noch nicht da waren. Man kann auch noch einmal auf die Ressourcen der Vergangenheit blicken, welche Erfahrungen oder Kompetenzen besonders hilfreich gewesen sind, die Schritte gut zu bewältigen.

Die Übung stellt natürlich nur ein Angebot von vielen dar sich mit Zukunftsängsten auseinanderzusetzen. Oft ist es gar nicht so sehr die konkrete Methode, sondern eher der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Thema, der uns aus einem Gefühl der Macht- oder Hilflosigkeit durch das Öffnen neuer Perspektiven in ein Gefühl der Selbstbestimmung zu bringen vermag. Genau hier setzt die systemische Psychotherapie als mögliche hilfreiche Stütze in der Begleitung an.
* Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verwende ich abwechselnd die weibliche oder männliche Form. Männer und Frauen sind natürlich gleichermaßen angesprochen. Gerne kann der Artikel auch über soziale Netzwerke geteilt werde.
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