Im gesellschaftlichen Diskurs über sexuelle Leidenschaft kommt immer wieder der Mythos der Unvereinbarkeit mit langjährigen Paarbeziehungen oder einem an Kindererziehung orientierten Familienleben zur Sprache. Einblicke in die Praxis der Paarberatung und Paartherapie zeigen ein differenziertes Bild.
Langeweile in Paarbeziehungen oder die Sexualität, die nur noch in Außenbeziehungen gelebt wird, sind der Stoff für Filme, Serien oder Theaterstücke. Hinzu kommt, dass diese oft mehr ist als reine Fiktion und es gibt kaum Menschen, die diese Themen nicht aus dem Freundeskreis oder aus eigenen Erfahrungen kennen.
“Das Wegräumen von Schutt und Asche hat der Glut ihrer Leidenschaft allmählich frische Luft zugeführt.”
Paare im Spannungsfeld zwischen Verbindlichkeiten und erotischer Langeweile haben manchmal ein Gefühl der Ratlosigkeit. Soll man es ignorieren, ansprechen oder einfach als natürliche Entwicklung einer tieferen Beziehung sehen?
Leidenschaft und lange Weile in Paarbeziehungen
Sexuelle Lustlosigkeit in langjährigen Paarbeziehungen ist ein recht weit verbreitetes Phänomen. Einerseits erscheint es in diversen Magazinen, Diskussionen oder Blogs wie diesem omnipräsent zu sein und andererseits ist es trotzdem in einer mit Sexualität geradezu überschwemmten Welt ein Thema, das bei Betroffenen mit Scham oder Schuld besetzt sein kann. Oft reden Paare deshalb auch nicht direkt von der Leidenschaft, die ihnen abhanden gekommen ist, sondern tragen ihre Enttäuschungen und ihre Unzufriedenheiten mit dem Leben und miteinander auf anderen Schauplätzen aus.
Es bedarf viel Vertrauen und Intimität sich gegenseitig mit "offenem Visier" begegnen zu können. "Intimare" aus dem Lateinischen bedeutet wörtlich anvertrauen, begegnen oder erkennen. Es geht also ein stückweit um das Erkennen der Ähnlichkeit und der Andersartigkeit des Partners oder der Partnerin. Intimität entsteht aus dem zugewandten Gespräch und ermöglicht einen persönlichen Dialog über Unterschiede und das Erkennen des anderen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Intimität und Sexualität oft stark miteinander verbunden oder sogar ersetzt, z.B. "die beiden sind intim miteinander". Bei näherer Betrachtung vermag man aber doch Unterschiede in der Bedeutung zu erkennen. In der Bezogenheit zum anderen geht es bei allen Unterschieden auch immer um die Suche nach Gemeinsamkeiten, dem Gefühl nach Zugehörigkeit respektive Sicherheit. Sexualität und Leidenschaft finden sich am anderen Pol des Kontinuums von Bindung und Erregung und beziehen sich auf individuelle Differenzierung.
In einer Zeit rapiden gesellschaftlichen Wandels gibt es eine Vielzahl an Ideen und Vorurteilen zum Diskurs des weiblichen und des männlichen Begehrens. Da wären zunächst einmal geschlechtsbedingte Gegensätze. Frauen werden weibliche Attribute wie Einfühlsamkeit, Friedfertigkeit und Intuition, Männern auf der anderen Seite Abgrenzung, Autonomie oder Aggressivität zugeschrieben. Dem gegenüber stehen soziale Modelle, die Unterschiede zwischen Mann und Frau als "bloße soziale Konstruktionen" sehen, die auch wieder dekonstruiert werden können. Doch sowohl das sozio-biologische als auch das sozio-kulturelle Erklärungsmodell vernachlässigen die real existierend Asymmetrie in der Verteilung der Privilegien und Pflichten von Frauen und Männern. Der Unterschied liegt also scheinbar in asymmetrischen Machtverhältnissen aufgrund ungleicher sozialer Bedingungen und Rollenerwartungen von Frauen und Männern.
Doch gleichzeitig existiert trotz aller Aufgeklärtheit und neuer Ideale von Partnerschaft und Gleichwertigkeit die Mystifizierung von Liebe als Gefühl der ewigen Verliebtheit. Vor allem in den kritischen Übergangszeiten im Paarzyklus greifen wir gerne auf solche Bilder zurück. Auf der Suche nach Orientierung und Sicherheit greifen Paare auf alte Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit zurück. Frauen tendieren wieder den Innenraum privater Beziehungen zu besetzen, welcher ihnen sicherer erscheint als Erfahrungen in einer kompetitiven Bildungs- oder Berufswelt. Männer klagen über Überforderung oder sind geplagt von Ängsten über die in Frage gestellte Männlichkeit und suchen wieder Frauen, die ihnen den Rücken freihalten und einen sicheren Hafen in ihrem Zuhause schaffen. Männer suchen zwar die selbständige, sexuell attraktive Frau, aber zu selbstsicher und vor allem zu herausfordernd darf sie auf keinen Fall sein.
Und warum sind umgekehrt sogenannte Neue Männer, die überwiegend weibliche Attribute wie Feinfühligkeit, Wertschätzung oder andere soziale Kompetenzen mitbringen so wenig anziehend für Frauen? Ist es das Misstrauen der Frauen, die dem neuen Mann nicht trauen oder deren mangelnde sexuelle Anziehungskraft und damit eventuell verbundenen fehlenden Eigenschaften für eine "traditionelle" Männer- oder potentieller-Vater-zukünftiger-Kinder-Rolle?
Um mit der Partnerin oder dem Partner in einen persönlichen Dialog zu diesen Anliegen treten zu können, erscheint es mit als wichtig, eigene Vorurteile oder Ideen zu kennen. Besonders in kritischen Phasen des Übergangs im Paarzyklus tendieren wir dazu innezuhalten und "Bilanz zu ziehen". Wenn Frauen sich selber definieren lernen, schaffen sie sich eigene Zugänge zur Welt von Lust und Sinnlichkeit. Wenn Männer sich begehren lassen lernen, können sie die Früchte weiblicher Emanzipation genießen. Hier kann es auch hilfreich sein sich Unterstützung von außen zu holen. Mein Anliegen für jedes Paar in Therapie ist, dass sich auf diese Weise vielfältige Beschreibungen der jeweiligen Wirklichkeit ergeben und diese im besten Fall zu bereichernden Entwicklungsmöglichkeiten und der Integration von bisher ungelebten Facetten der Paarbeziehung führen.
* Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verwende ich abwechselnd die weibliche oder männliche Form. Männer und Frauen sind natürlich gleichermaßen angesprochen. Gerne kann der Artikel auch über soziale Netzwerke geteilt werde.
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